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In Gedanken durch die Zeit

Diesen Artikel habe ich für den Totenhemd-Blog von Petra Schuseil und Annegret Zander geschrieben. Ich finde es eine tolle Idee von Petra, jedes Jahr im November eine Blog-Aktion zu starten-so wie dieses Jahr der "Friedhofsspaziergang".


Das Friedhofsgebäude in meiner Heimatstadt Eisenach wirkt so, als wäre es schon sehr alt, es ist durchaus denkbar, dass es vor 120 Jahren im Grunde genommen genauso ausgesehen hat.

Unten war die Kapelle

und dahinter wohnte der Friedhofsverwalter mit seiner Frau und ihren 7 Kindern, eines davon war meine Urgroßmutter.

Als sie 18 Jahr alt war, ging sie nach Frankfurt am Main in Stellung, wie man damals sagte. Die hübsche junge Frau war schon bald verlobt und –schwanger.

Vor 120 Jahren war das nicht

so einfach: unverheiratet schwanger zu sein und dann wollte der Verlobte auch noch nach Amerika auswandern ! Meine Urgroßmutter wollte aber nicht auswandern und ihre Stellung wollte sie auch nicht aufgeben. Im November 1899 kam ihre kleine Tochter zur Welt und es ist nicht überliefert, wie sie mit ihrer komplizierten Lebenssituation zurechtkam. Tatsache ist, dass sie sich eines Tages, vielleicht im nächsten Frühjahr, als es wieder wärmer geworden war, auf den Weg zu ihrer Heimatstadt machte.

Sie wusste genau, zu welchen Uhrzeiten ihr Vater, der Friedhofsverwalter, in den Ziegenstall ging, um seine

Tiere zu füttern. Der Ziegenstall befand sich auch auf dem Friedhofsgelände. Es war damals durchaus üblich, Haustiere, hauptsächlich Ziegen, Kaninchen oder Hühner zu halten, hinterm Haus, wo eben Platz war. Also auch auf dem Friedhof, im Innenhof der Wirtschaftsgebäude. So ging meine Urgroßmutter kurz vor ein Uhr mittags in den Stall, bettete ihr kleines Kindlein in das Stroh, legte einen Brief mit dem Namen des Kindes dazu und - verschwand. So kam es, dass meine Großmutter auf dem Friedhof aufgewachsen ist, umsorgt und behütet von den ihren Großeltern und  zahlreichen Tanten und Onkels.

Es muss wohl eine gute Kindheit gewesen sein, überliefert ist jedenfalls, dass das kleine Mädchen recht verwöhnt wurde. Einmal lief sie ganz alleine ein paar Straßen weiter bis zu einem Geschäft, in dem es Kinder-und Puppenwagen zu kaufen gab. Sie suchte sich einen aus und sagte: „Den will ich haben!“ Der Verkäufer gab ihr den Puppenwagen und schickte ihrem Vater die Rechnung. Seine Reaktion war sehr milde und wohlwollend, denn er sagte nur: „Da hast du dir aber ein schönes Geschenk ausgesucht!“ Diese kleine Anekdote kommt mir hin und wieder in den Sinn und ich stelle mir vor, wie das kleine Mädchen irgendwann Angang des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinem Puppenwagen die Wege des Friedhofs entlangsaust. Zu Allerheiligen in diesem Jahr machte ich einen kleinen Spaziergang auf dem Friedhof, schickte meine Gedanken auf eine Zeitreise und machte diese Fotos.

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Kommentare: 4
  • #1

    Petra (Donnerstag, 07 November 2019 21:24)

    Liebe Martina, das ist ja wirklich eine traurig-schöne Geschichte.
    Danke für die Eindrücke vom Eisenacher Friedhof.
    Wir freuen uns, dass du bei unserer Blogaktion dabei bist.
    Herzlicher Gruß. Petra

  • #2

    Nicole (Freitag, 08 November 2019 17:56)

    Was für eine schöne und interessante Zeitreise, danke fürs mitnehmen!
    Liebe Grüße
    Nicole

  • #3

    Geertje (Freitag, 22 November 2019 19:11)

    Ein wundervoller Spaziergang. Danke für deine Rückmeldung auf meinen Spaziergang. Ich glaube, wir können uns zusammen tun. Habe gerade ein wenig hier herum gestöbert. Du nimmst auch den Persepektivwechsel in den Blick like Wandelsinn :-)

  • #4

    Annegret (Samstag, 30 November 2019 10:27)

    Auf dem Friedhof aufwachsen, ich sehe mit dir das Kind mit dem Puppenwagen sausen. Danke für diese Geschichten!
    Liebe Grüße
    Annegret