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Etwas ist gestorben Teil 1

Über den Todeszeitpunkt kann ich keine genauen Angaben machen, höchstens einen Zeitraum benennen: Irgendwann im vergangenen Jahr. Wir wohnen Tür an Tür, meine Tochter mit ihrem Mann und den 2 Kindern im Alter von 9 und 5 Jahren und mein Mann und ich. In den ersten Jahren galt es als großes Glück, die Kinder mal schnell bei den Großeltern lassen zu können, wenn es nötig war. Für uns war es auch ein großes Glück, die Enkelkinder um uns zu haben. Für mich hatte sich eine Art Idealzustand ergeben, so eine Art kosmisches Gleichgewicht im Lebenszyklus.

Die Erinnerungen an meine Kindheit, insbesondere diejenigen, die mit meinen Großeltern zu tun hatten, wurden mit den Jahren immer präsenter.  Diese glückselige Zustand entwickelte sich aus dem Erleben, dass die Liebe, die man für die Enkel empfindet, genauso stark ist wie für die eigenen Kinder, als diese in dem Alter waren. Und noch etwas:

Schöpfen und großzügig verteilen können, wie aus einer Quelle, dich ich vorher so nicht kannte.Was aus der Quelle fließt, sind Ströme der Zufriedenheit, Ruhe und Wissen ohne Worte. Alles in ihrer Nähe kann sich daran erquicken. Mein Vermögen, aus dieser Quelle schöpfen und verteilen zu können, hängt unmittelbar damit zusammen, dass auch mir einst daraus geschöpft wurde, ich mich daran erquicken und nähren konnte. Es ist, als schließe sich ein Kreis

die mir meine Großeltern gewidmet haben, an ihre bedingungslose wohlwollende Zuwendung, an die verschiedensten Erlebnisse und die Erkenntnis, dass es unterschiedliche Lebensentwürfe gibt, die mir als Kind alle gleich lieb waren, solange ich mich in deren Schutzatmosphäre frei bewegen konnte. Der Begriff der Freiheit wurde damals für mich, auch wenn mir das zu der Zeit nicht bewusst war, begreifbar: Es stand mir frei, diese 2 Großmütter und 2 Großväter zu besuchen, wann immer ich wollte und  die Freiräume bei den Großeltern waren andere als jene Hause bei den Eltern. Die Verfügbarkeit dieser Freiräume gaben mir ein Grundgefühl der Geborgenheit- beide Großelternpaare waren immer da und freuten sich, wenn ich zu ihnen kam. Sie wollten mich niemals belehren oder erziehen, sondern waren einfach für mich da und ich konnte bei ihnen sein.

Etwas ist gestorben, wie soll ich es benennen?

Die Zeit, die wir, mein Mann und ich, zur Verfügung stellen, die wir quasi anbieten wie Sauerbier, ist wertlos geworden. Anfangs fühlte sich diese Entwertung an wie ein Schaffner früher die Fahrkarte nach der Kontrolle in der Straßenbahn entwertet hat: Ein Knipsen mit der Lochzange- fertig. Die Fahrkarte war ungültig, das ausgestanzte Loch wies einwandfrei glatte Kanten aus. Das Ausgestanzte blieb beim Schaffner, Ambitionen zum Reparieren aussichtslos. Heute, also etwa nach einem Jahr der Entwertung, wird es vorgezogen, die Kinder lieber sich selbst zu überlassen als mal für eins, zwei Stunden zu mir, zur Oma zu schicken. Meine Tochter und ihr Mann haben Gründe, die etwas mit Macht und Einfluss zu tun haben. Diese Gründe sind ihnen in der Coronazeit bewusst geworden. In ihren Augen ist die Alleinherrschaft einfacher zu handhaben, als das oft zitierte Dorf, welches nötig ist, um ein Kind zu erziehen.  Der Schmerz über diesen Verlust, die Schmach der Zurückweisung und all die traurigen Gedanken darüber werden vielleicht für immer meine Begleiter bleiben, jedenfalls sieht es bis jetzt nicht so aus, also würden sie jemals von mir weichen wollen. Der Schmerz hat sich jedoch verändert, ich spüre nicht mehr das Knipsen der Lochzange mit dem sich wellenförmig ausbreitenden Schmerz sondern nur noch das Loch.

Natürlich zeigen die Bemühungen, das Loch mit anderen Inhalten zu füllen, schon Wirkung. Mit dem Aufbrechen der Knospen im Frühling war die Zeit gekommen, das Bild des ausgestanzten Lochs über Bord zu werfen und stattdessen lieber zu schauen, was da an frischem Grün hervorbricht. Ein neuer Gedanke macht sich breit:

Gut, dass uns dies jetzt passiert und nicht erst 10 Jahre später. Heute sind wir , oder sagen wir besser, fühlen wir uns noch (relativ) jung und stark. Wir können noch einmal neu anfangen, die Weichen anders stellen, umziehen, umbauen, neu gestalten, Lebensentwürfe ändern, Neues ausprobieren.

Herzlichen Dank an C.S. für dieses Foto!
Herzlichen Dank an C.S. für dieses Foto!

Ein zweiter Gedanke streckt bereits seine Ranken nach dem ersten aus und spinnt diesen von allen Seiten ein:

Vertraue!

Es wird alles gut!

Ist nicht bisher immer alles gut gegangen? Wenn ich genau hinschaue, den Gedankengang zurückverfolge, sehe ich eine kleine zarte Wurzel genau aus dem kleinen gestanzten Entwertungsloch sprießen. Die Quelle, sie ist noch lange nicht versiegt. Es liegt an mir, daraus zu schöpfen und zu verteilen. An wen, das wird sich zeigen. Es gibt viele Quellen und viele Menschen, die nach Quellen suchen. Frischauf!

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