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Etwas ist gestorben Teil 2

An einem sonnigen Morgen höre ich, unterwegs im Auto ein Lied, ein Lullaby.

Die zweite Summe setzt ein, als ich das Ortsausfahrtsschild passiere. Das ist die Stelle, an der ich jedesmal mit Gänsehaut und anderen heftigen emotionalen körperlichen Schauern überfallen werde, deswegen vergesse ich heute Gas zu geben. Und das ist gut so, denn kurz darauf kommt ein Reh aus dem Gebüsch und läuft über die Straße, Es springt nicht, wie es Rehe sonst tun, es geht fast. Wieso bewegt es sich so langsam und wo will es denn hin? Und welches Wort würde am besten diese geschmeidige Bewegung zwischen Springen und Gehen beschreiben?

Mein Weg ist nicht weit, schon fahre ich in die nächste Ortschaft hinein und mein Blick wird von leuchtendem Klatschmohn am Straßenrand angezogen. Schön, wie sanft der Wind die großen Blüten wiegt.

Im Garten daneben steht eine Frau mit einem Rechen. Ihre Bewegungen sind noch viel langsamer als die des Rehs, jedoch nicht viel schneller als die des Mohns.  Ein irritierender Gedanke dass  alles was ich sehe, der Musik, die ich höre, beinahe magisch untergeordnet ist. 

Mein Weg führt mich zu einer Freundin, die seit einem halben Jahr im Altenheim lebt. Die Umstände, warum sie ihre Wohnung verlassen und ins Heim einziehen sollte, habe ich nicht verstanden. Sie wollte es jedenfalls nicht. Ihr Vermieter ist ihr Bruder, ein in der Stadt bekannter Arzt. Ihr Sohn und ihr Bruder haben ihr eine Frist gesetzt, bis wann die Wohnung geräumt sein sollte.

Das hat sie nicht geschafft. Sie ist langsam, alles was sie tut, ist langsam. Das liegt an ihrer Krankheit, die sie sehr stark behindert. Außerdem war sie die Hälfte der Zeit in Quarantäne und durfte nicht alleine mit dem Bus fahren und war auf die Zeiten eines Fahrdienstes angewiesen.

Nun hat sich der Druck erhöht, der Vermieter drängt darauf, die Wohnung zu räumen. Bruder und Sohn sind beide sauer, weil sie ihre Dinge immer noch nicht sortiert hat. Heute ist der letzte Tag, an dem sie noch etwas abholen kann und ich habe ihr versprochen, ein paar Kisten für sie einzulagern und beim Sortieren und Verteilen zu helfen. Sie kann es nämlich schwer ertragen, Dinge, die noch gut erhalten sind, in den Müll zu werfen. 

Der Sohn ist in der Wohnung anwesend.Er telefoniert ständig,

der Laptop steht bereit für eine Telefonkonferenz, er hat keine Zeit und ist stinksauer. Der Bruder kommt dazu, beide schimpfen, weil sie heute gekommen ist, denn die Handwerker sind im Haus, um an der Heizung etwas zu machen, und dann „springt die hier vor jedem Heizkörper rum“. Ich schaue mich um, hier, an dem Regal, wo sie ihre geliebten Bücher einpacken will, ist kein Heizkörper. Die Arbeiter sind im unteren Stockwerk. Der Bruder gibt uns eine Viertelstunde. Der Sohn steht neben uns, kommentiert die Bücher- „Das ist doch so ein Standardwerk, das überall rumsteht.  Bestimmt auch bei ihr im Heim. Das braucht sie nicht.“ Er regt sich auf, will mir erklären, warum er sich aufregt (sie hat die Frist nicht eingehalten, sie hat dies nicht gemacht und jenes nicht.) „Und dann kommt sie hier her und fällt auch noch dauernd um.

Wissen Sie, dass sie umfällt?“ Fragt er mich.

„Nur zweimal“, sagt sie leise. Er schimpft, läuft umher, telefoniert, kommt wieder und redet abwechselnd auf sie und auf mich ein. „Sie haben ja keine Ahnung, sagt er, „das hier ist Horror.“ 

„Stimmt“, sage ich.  Und: „Komm, wir gehen, das hat hier keinen Zweck.“ Plötzlich kann ich es nicht mehr ertragen, gehe schon mal die Treppe runter, sie kommt ja mit dem Lift hinterher. Oder doch nicht?

Sie muss sich noch eine Litanei anhören, darüber, dass er ihr ja nur helfen will….ich gehe raus um dort vor dem Haus zu warten.

Später, im Auto, sage ich „Danke, dass du mir deine Hölle gezeigt hast."

Das meine ich völlig ernst, denn meine eigenen Probleme sind nun fast bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft und ihre erscheinen mir gigantisch. Diese winzig kleine Frau neben mir hat jedoch ihre Fassung längst wiedererlangt und redet so vernünftig, bezieht voller Verständnis die Positionen der anderen mit ein und erzählt mir von den weiteren Schritten, die sie plant. 

Langsam dämmert mir, dass sie den besten  Weg beschreitet, den Weg der geringsten Verletzungsgefahr.  Brüche können auf verschiedene Art geheilt werden. Sie schaut solange darauf, bis das Gold durchschimmert.

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