Juni 2021:
Während eines Gottesdienstes, nach dem Lockdown, der Pfarrer spricht den Text des Liedes „Befiehl du deine Wege“.
Der Organist spielt eine Strophe, der Pfarrer spricht eine, abwechselnd, so soll es wohl lebendig wirken: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“ Mich ergreift ein Grauen und eine unwiderstehliche Lust zur Rebellion. Ich fange an zu summen.
Darin habe ich mich in letzter Zeit oft und intensiv geübt, wegen dem Singverbot: „auf sein Werk musst du schauen, wenn dein Werk soll besteht.“ Kahlil Gibran hat die Wirkung von Musik so beschrieben: „Als Gott den Menschen schuf, gab er ihm die Musik als Sprache des Himmels und der Herzen. Es ist eine Sprache, die anders ist als alle Sprachen, denn sie offenbart die Geheimnisse der Seele und hält Zwiesprache mit dem Herzen.“
Solch schöne Worte finde ich nicht, um zu beschreiben, was mir hier in diesem Gottesdienst fehlt und warum ich summe, summen muss !
Es ist wirklich eine Art Notwehr, denn ich fühle mich betrogen um die Melodie, eine Melodie, die ich sehr liebe und die mir nun aus fadenscheinigen Gründen vorenthalten wird. Was macht es denn für einen Unterschied, ob der Pfarrer, der vor geöffnetem Fenster steht, nun singt oder spricht? Ich meine, die Inzidenz- zahlen sind so niedrig, dass es sowieso für jede Corona-Einschränkung keinerlei rechtliche Grundlagen gibt.
Menuhin sagte:
„Wenn einer aus der Seele singt, heilt er zugleich seine innere Welt. Wenn alle aus ihrer Seele singen und eins sind in der Musik, heilen sie zugleich auch die äußere Welt!“
Das verstehe ich sofort und deswegen bin sauer. Ich will mir keinen Text vorlesen lassen, ich will singen. Und ich will das auch für die Menschen um mich herum, für deren Betreuung ich bezahlt werde. Deshalb summe ich und fordere zum Summen auf, wo Singen verboten ist. Meistens klappt das Summen nicht so gut und endet in Albernheit und Gelächter. Das macht nichts, denn Lachen ist, neben dem Singen und der sanften Bewegung eine der heiligen Quellen, aus denen wir im Alltag wohltuende, erquickende Kraft schöpfen. Dank der körpereigenen Hormone praktizieren wir so aktivierende Gesundheit. Also schon allein, weil auf der somatischen Ebene so viel passiert, sollten Singen, Lachen und Bewegung unsere Basis-Medizin für jeden Tag sein, denn eine bessere Prophylaxe gibt es nicht.
Kommt die spirituelle Ebene noch hinzu, spüren wir die heilsamen Resonanzen beim gemeinsamen Singen, vertiefen wir uns in poetischen Texten und schöner Musik, dann können wir wie der heilige Franziskus ausrufen: „Herr, Musik und Poesie haben mich in deine Nähe geführt !“
Singen, Lachen, Bewegung, Sich-Selbst-Spüren, gemeinsam eine Klangfontäne sprühen lassen, das ist pure Lebensfreude. Wer im Seniorenheim lebt, wird im Großen und Ganzen von derartigen Ausbrüchen eher selten heimgesucht. Es geht oft ruhiger und bedächtiger zu. Doch wenn gesungen wird, kommen alle dazu gelaufen. Und auch die verschiedenen Bewegungseinschränkungen lassen noch immer Sitztanz oder Body-Percussion zu.
Sich selbst spüren, die eigene Stimme hören, ja, auch mal laut und lustig zu sein, das ist ein Grundbedürfnis. Während des Lockdowns habe ich öfters davon geträumt, mich in einer lauten, dichten Menschenmenge zu befinden, wie bei einem überfüllten Rock-Konzert und alle singen laut mit. Das Gefühl aus diesem Traum hat mich dann durch die nächsten Tage getragen und war äußerst hilfreich, die Abstandsregeln und den Anblick der wie leergefegt wirkenden Stadt zu ertragen. Eigentlich mag ich Ruhe, doch im Lockdown empfand ich die Stille oft gruselig, unerträglich.
Gott sei dank dürfen die Kinder mittlerweile wieder in die Schule!
Ich wohne gegenüber einer Grundschule und kann mich noch gut an das erste akustische Erlebnis einer Schulpause erinnern und erfreue mich noch immer daran:
Nach dem Klingeln strömt die ganze Schar von etwa 80 Kindern hinaus ins Freie und ein Klanggemisch aus Lachen, Schreien und Rufen strömt in die Luft und füllt den ganzen Ort. So viel Übermut und Frohsinn ! Und ich mittendrin-was für ein Glück! Manchmal stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn wir die Begeisterung über 10 Minuten Pause bis in das Erwachsenenalter bewahrt hätten….Das wäre sicher witzig, doch mit der Zeit auch etwas nervig. Tatsächlich gibt es sogar Menschen, die sich von dem fröhlichen Kindergeschrei gestört fühlen. Ein derartiges Exemplar wohnt in meiner Nachbarschaft. Dem Gerücht zufolge, denn der Vorgang ist (noch) nicht öffentlich, ruft er also das Schulamt an und beschwert sich über den „Lärm“. Nun sollte man meinen, dass diesem Bürger nun erklärt wird, dass seine Befindlichkeiten wohl ernst genommen und respektiert werden, doch sollte ihm auch empfohlen werden, für sein Lärmproblem andere Lösungsstrategien in Erwägung zu ziehen, als die 80 Kinder dafür verantwortlich zu machen.
Ich persönlich hätte auch erwartet, dass einer solchen Person das zeitgenössische Konzept von Bildung als sozialer Prozess erklärt wird, dass das Kind und seine Entwicklung im Mittelpunkt stehen
und dass lautes und fröhliches Herumtollen eine unabdingbare Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung ist. Ich hätte weiterhin erwartet, dass diese Person daran erinnert wird, dass
Vorstellungen von Ruhe-Zucht-und Ordnung einer vergangenen Epoche angehören. Dabei stelle ich mir vor, dass ein solches Gespräch mit der Frage enden sollte, wo Kinder denn sonst rumschreien
dürfen und sollten, wenn nicht auf dem Schulhof?
Leider weiß ich nicht, was nun dran ist an dieser Geschichte, die sich durch Hörensagen am Leben erhält, ausging, denn nun sind Ferien.
Kurz vor den Ferien hieß es, die Schuldezernentin hätte sich nun an den Schulleiter gewendet, mit der Bitte, den Kindern zu erklären, dass sie in der Pause bitte leiser sein sollen, weil sich ein
Nachbar beschert hat.
Die Ferien bescheren mir nun Zeit, über diese Geschichte nachzudenken, und so erinnere ich mich an unzählige Momente, in denen mir, im Umgang mit Kindern, die Lautstärke auf die Nerven ging und
ich mich fragte, warum müssen die so laut schreien? Deshalb möchte ich ausdrücklich differenzieren: Die Regulierung der eigenen Stimme und der Einsatz einer angemessenen Lautstärke ist ein
wichtiges Entwicklungsziel. Mir ist bewusst, dass Lärm in der Schule nicht nur lästig für alle ist, sondern auch potentiell gesundheitsgefährdend.
Doch Kinder im Grundschulalter brauchen auch unbedingt Gelegenheiten, wo sie toben und laut sein dürfen. Schulpausen zum Beispiel.
Und wir Erwachsenen sollten uns immer wieder daran erinnern, wie es anfühlt, ein Klangkörper zu sein:
Lachend, sprechend, summend, singend, in die Tonlage der anderen einstimmend oder korrespondierend, mit oder ohne rhythmische Begleitung.
Heute war wieder Gottesdienst. Trotz der 3G-Regeln und geöffnetem Fenster durfte nicht gesungen, die Liedtexte aber von allen gemeinsam gesprochen werden. Wie lange sollen diese Regeln eigentlich
noch bestehen? Doch heute war es etwas anders als beim letzten Mal:
Der Pfarrer betonte während des Gottesdienstes mehrmals, dass er es unendlich bedaure, die schönen Lieder, die er ausgewählt hatte, nicht singen zu dürfen. Und als wir dann die Texte sprechen
sollten, ertönte ein Summen den Raum- ich war nicht die einzige, die summte. Das Summen war noch nicht sehr kräftig, doch unüberhörbar. Das Lied klang in uns und unsere schwingenden Körper
wurden zu Resonanzkörpern der gesungenen Botschaft. Vielleicht war das ein vielversprechender Anfang, ich werde auf jeden Fall weiter das Summen üben, singen und - Gelegenheiten zum Singen
schaffen, wo ich kann.
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