Die restriktiven Coronamaßnahmen laufen dieser Tage aus. Über eine davon, das Singverbot, habe ich hier berichtet. Manches davon bleibt hängen wie das schwarze Pech im Märchen. Das Singverbot beispielsweise- ist es nicht eine geeignete Maßnahme für andere Lebenslagen? Immer mit dem Etikett „Infektionsschutz“ versehen, das ist doch klar. Während wir im Alltag des Seniorenheimes im letzten Jahr sogar unter „Pandemiebedingungen“ wieder zusammen singen durften, fällt das Singen nun wieder aus, weil es plötzlich sinnvoll erscheint, auch zwei Wochen nach dem „Infektionsgeschehen Magen-Darm“ und nachdem alle wieder gesund sind, die Gruppenbildung im Heim zu unterbinden. Sechs Wochen lang nicht das Zimmer verlassen zu dürfen, ist eine Maßnahme, die Auswirkungen hat, die so gravierend sind, dass ich sie hier nicht darstellen möchte. Mir geht es heute nur um einen Aspekt: Was passiert, wenn (mal wieder) das Singen ausfällt.
Der Mensch ist kreativ und wenn er Singen als Lebensnotwendigkeit empfindet, entwickelt er Ideen zur Entwicklung von Freiräumen: Ein Bewohner des Altenheimes, den ich in seinem Zimmer besuche, schildert mir seinen Plan. Er selbst ist ein begnadeter Sänger, der über 40 Jahre lang spirituelle Lieder in seiner christlichen Gemeinde und in Gottesdiensten gesungen hat. Aktuell ist die Situation so, dass Gottesdienste zwar stattfinden, doch der Pfarrer steht allein in der Kapelle und eine Kamera überträgt seine Predigt in die Zimmer der Bewohner. Jedenfalls, soweit diese an den Hauskanal angeschlossen sind und jemand diesen einstellen kann. Theoretisch kann also jeder Bewohner den Gottesdienst im Fernsehen anschauen und sich die etwas verloren wirkende Gestalt des Geistlichen auf den Bildschirm holen...Angesichts dieser Praxisvariante der sterilen Seelsorge kam nun der ehemalige Sänger auf die Idee, er könne doch auch hin und wieder in der Kapelle singen und sein Gesang könnte dann zu jenen Bewohnern in die Zimmer übertragen werden, die bettlägerig sind oder aus anderen Gründen das Zimmer nicht verlassen dürfen. Mich rührt seine Idee an, doch ich unterbreite ihm einen alternativen, ganz simplen Vorschlag: Direkt gegenüber von seinem Zimmer wohnt eine Frau, die ihr Zimmer nie verlässt und der es oft nicht gut geht. Man bräuchte also nur die Türen zu öffnen... Das findet er gut und ein paar Tage später kommt die Gelegenheit, unseren Plan zu verwirklichen. Ich besuche die genannte Frau, sie winkt ab und flüstert mir zu, dass sie jeden Tag nur noch darum bete, dass der Herrgott sie endlich zu sich hole. Nachdem sie mir ihr Leid geklagt hat, frage ich sie, ob sie eigentlich ihren Nachbarn vis a vis kenne und ob sie wüsste, dass er ein Sänger ist. Und nicht nur das, sondern dass er sogar nur darauf warte, jemanden mit seinem Gesang zu erfreuen, zum Beispiel sie. Die Überraschung leuchtet auf ihrem Gesicht und ihre gesamte Person ist ganz und gar Vorfreude. Ein paar Minuten später schon ist es so weit und beide sitzen sich gegenüber in ihren Türöffnungen.
Während das Lied „Showers of blessing“ ertönt, sehe ich förmlich, wie alle schlechten und traurigen Gedanken davongespült werden und einem strahlend glücklichem Gesicht Platz machen. „Mein Gott, wie schön!“ flüstert sie nun und ich hoffe, der liebe Gott nimmt ihren Stimmungsumschwung gelassen hin.
Nach dem Lied strahlen sich Sänger und Zuhörende gegenseitig an. Er beteuert, dass ihn Singen glücklich macht und sie, wie schön das war. Schon beginnen sie, einander ihre Lebensgeschichte zu skizzieren, doch das Mittagessen durchbricht erst einmal diese frohe Runde-bis zum nächsten Mal.
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